Ein phänomenologischer Ansatz zu der Frage von Bewusstsein von Hans-Jürgen Scheurle
Wie entstehen Wahrnehmung und Bewusstsein und welche Rolle spielt die Hirnfunktion für den Willen? Nach der heute meist verbreiteten Auffassung werden Wahrnehmen, Erkennen und Fühlen auf bisher noch unbekannte Weise vom Gehirn hervorgebracht. Menschliches Wollen und Handeln sollen teils von dort ausgehen, teils dort eingreifen. Was spricht aber dafür, dass die unterschiedlichen Erlebnisweisen und das Ich-Erleben des Menschen wirklich im Gehirn auftreten? In der Tat gilt die Frage, wie die Gehirnfunktion Phänomene wie zum Beispiel das menschliche Bewusstsein hervorbringen soll, als eines der letzten ungelösten Rätsel der Wissenschaft.
Was wir wirklich erfahren
Ob die kartesische Cogitatio „Ich denke, also bin ich!“ tatsächlich im Gehirn auftritt? Denken und Ich-Erleben scheinen weder im Leib noch im Gehirn fixiert zu sein. Wir erleben sie vielmehr in ganz verschiedenartigen Gegenwartserfahrungen, nicht räumlich, sondern delokalisiert. Der menschliche Geist steckt nicht im Gehirn, sondern „weht, wo er will“ in der Welt, nämlich überall da, wo man bewusst etwas erlebt und tut. Warum aber scheinen die in der Gehirnphysiologie erforschten Tatsachen die Annahme nahe zu legen, dass höhere Leistungen vom Gehirn produziert werden? Die Leistungen der Sinne, des Denkens und die Bewegung sind bekanntlich an bestimmte Hirnregionen gebunden. Bei motorischen, seelischen und geistigen Lebensäußerungen kommt es zu vermehrten elektrischen Aktivitäten der damit korrelierten Hirnbereiche, zu lokaler Zunahme von Stoffwechsel, innerer Atmung und Durchblutung. Durch künstliche Reizung von Hirngebieten können unwillkürliche körperliche Reaktionen und Erinnerungsvorstellungen auftreten. Um diese Phänomene zu erklären, haben Neurowissenschaftler eine Art „Computertheorie des Gehirns“ entwickelt, wonach die Nervenimpulsmuster als Zeichen oder Informationen angesehen werden, die vom Unbewussten bzw. vom menschlichen Geist gelesen, ausgewertet und verarbeitet werden sollen. Es ist jedoch eine rein spekulative Vorstellung, wonach es inhaltliche Informationen im Nervensystem für einen „Geist im Gehirn“ geben soll. Man müsste dann eine Art „Homunkulus“ im Gehirn annehmen, der hier neuronale Nachrichten empfängt, sie deutet und wiederum aussendet. Die Analogie Hirn – Computer bleibt eben deshalb unverständlich, weil Computer nur funktionieren, wenn sie von einem Beobachter bedient werden, der unter anderem Zeichen auf dem Bildschirm erkennen und verstehen, Absichten und Ziele formulieren und diese per Tastendruck in den Computer eingeben kann. Bei Mensch und Tier ist jedoch keine bedienende oder empfindende Instanz im Gehirn vorhanden. Der Bio-Computer „Gehirn“ bleibt so eine bloße Analogie, der trotz ihrer populären Verbreitung keine ernsthafte wissenschaftliche Relevanz zukommen kann.
Bewusstsein als Phänomen der Peripherie
Die Phänomene des Erlebens, Handelns und Bewegens treten phänomenologisch nicht im Gehirn, sondern im Umkreis, in der Peripherie des Leibes auf. Die Annahme, dass sie im Gehirn entstehen, ist weit vom wirklichen Erleben entfernt und stellt eine Projektion aus der Sinnenwelt in eine „Innenwelt“ dar. Dass das Gehirn bei den Phänomenen von Bewusstsein und Erleben mitwirkt, muss nicht unbedingt heißen, dass die Erlebnisse dort auch stattfinden. Statt die Projektion des Erlebens und des Willens ins Gehirn anzunehmen, ist es phänomenologisch naheliegender, den Entstehungsgrund der Leistungen und Wahrnehmungen dort anzusetzen, wo sie real auftreten: In den Schnittpunkten einer Begegnung von Organismus und Umwelt. Rudolf Steiner vertritt, noch pointierter, die Auffassung, dass man sich aufgrund der Erfahrung des Mathematischen davon überzeugen könne, dass „das Ich nicht im Leibe ist, sondern außerhalb desselben … Und man wird deshalb zu einer besseren Vorstellung über das Ich gelangen, wenn man es sich nicht innerhalb der Leibesorganisation vorstellt und die Eindrücke ihm von außen geben lässt, sondern wenn man das Ich in die Gesetzmäßigkeit der Dinge selbst verlegt.“ Wenn der ganze Leib und die Leibesperipherie der Ort des Erlebens und der Leistungsbildung sind, muss das Gehirn offenbar eine andere Funktion haben als bislang angenommen wird.
Eine „Philosophie des Erlebens“
Die Vorstellung, dass vom Gehirn das Erleben und der menschliche Geist hervorgebracht würden, ist jedoch auch noch aus anderen Gründen problematisch. Obwohl das Gehirn eine notwendige Bedingung der geistigen und physischen Leistungen ist, heißt dies nicht, dass durch es die Leistungen selbst erklärt werden könnten. Denn Phänomene kann man grundsätzlich nicht erklären, sondern nur unmittelbar erleben. Sie sind letztgegeben und nicht weiter reduzierbar. Was zum Beispiel die Farbe „türkis“, was ein leichter Tasteindruck von meinem Nachbarn, was eine bewegte Geste der Hand, was ein gewisser Gedanke oder ein Geigenton der Höhe „c“ ist, kann man nur erfahren, indem man es als Qualität erlebt und sich auf das Erleben einlässt. Sinnliches Erleben ist in jedem Augenblick neu oder muss zumindest immer wieder aufgefrischt werden. Die Reproduktion von früher Erlebtem durch das Gedächtnis kann die unmittelbare Gegenwartserfahrung nicht ersetzen. Phänomene werden durch unvoreingenommene Einstellung und Interesse, Hingabe und spielerischen Umgang zugänglich. Dies fällt der Wissenschaft schwer. Es bedarf dazu einer entsprechenden „Philosophie des Erlebens“, welche die bisherige Neurowissenschaft ergänzen sollte. Denn erst, wenn die Phänomene methodisch aufgenommen werden, hat die Hirnforschung die Inhalte erfasst, welche sie eigentlich erklären will. Das Fehlen der Phänomenologie führt dagegen häufig zu Missverständnissen.
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